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Wahlnachwehen in NRW: AfD-Schock, Klimasorge und Diplomatie

Jetzt ist Fingerspitzengefühl statt Austeilen gefragt in der Bundespolitik. Ein Politikwissenschaftler rät Merz, von Wüst zu lernen, wie man über seinen Schatten springt.

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Politologe: Wüst wäre guter Berater für schwierige Gespräche Marcus Brandt/dpa

Düsseldorf (dpa/lnw) - Die Bundestagswahl hat auch in Nordrhein-Westfalen zentrale Fragen aufgeworfen: Wie kann eine möglichst schnelle Regierungsbildung unterstützt werden? Was bedeutet der Aufstieg der AfD für die Parteienlandschaft in NRW? Und was würde ohne Grüne in der Bundesregierung aus dem Klimaschutz?

Wüst will Brücken bauen

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst warb nach dem harten Wahlkampf für Kompromissbereitschaft. «Die Menschen in Deutschland haben einen Politikwechsel gewählt», sagte der CDU-Politiker vor Sitzungen der Spitzengremien seiner Partei in Berlin. 

«Jetzt ist die politische Mitte gefordert zusammenzukommen, auch Brücken zu bauen und Antworten zu geben auf die Sorgen der Menschen, denn nur so werden wir am Ende die extremen Ränder wieder kleinkriegen.»

Die Union war bei der Bundestagswahl klar stärkste Kraft geworden, ist aber auf einen Koalitionspartner angewiesen. Rechnerisch ist eine Regierung mit der SPD möglich, eine Zusammenarbeit mit der AfD hat die CDU ausgeschlossen.

Zuhören statt Austeilen

Der Münsteraner Politik-Professor Norbert Kersting empfiehlt der Union, bei den anstehenden schwierigen Koalitionssondierungen auch auf moderate, erfahrene Länderchefs zu hören. Wüst wäre «ein guter Berater», sagte Kersting der Deutschen Presse-Agentur in Düsseldorf. 

Immerhin habe der Wahlsieger der Bundestagswahl, Friedrich Merz (CDU), noch keine Regierungserfahrung und noch dazu als Oppositionspolitiker einen sehr pointierten Wahlkampf gemacht. «Da kannte er auch keine Verwandten und hat wirklich rigoros ausgeteilt», stellte der Politikwissenschaftler fest.

Rat an Merz: Der Verstand kommt mit dem Amt

«Jetzt ist er in einer anderen Rolle und es gibt den Spruch: Der Verstand kommt mit dem Amt.» Nun komme es darauf an, sich auch in andere Positionen einfinden zu können. «Und da wäre er sehr gut beraten, sich abzusprechen mit den Landeschefs, die Koalitionen eingegangen sind.»

Die Forschung zeige, dass die Wählerschaft von CDU und SPD in vielen Bereichen deutlich näher zusammen liege als die öffentlich zugespitzten Positionierungen der Parteien. «Bei vielen innenpolitischen Themen hat man das Gefühl, die Parteien liegen weit auseinander», sagte Kersting. «Die Wählerschaft der Parteien dringt aber darauf, dass man Lösungen findet und sie ist auch mehrheitlich der Meinung, dass das möglich ist.» 

Wüst und die Kunst der Diplomatie 

Wie das praktisch umzusetzen ist, könne aus den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und Grünen 2022 in NRW gelernt werden. «Das hat Wüst hervorragend gemacht, weil er da über den Schatten gesprungen ist.» So habe er etwa mit den Grünen Schnittmengen für einen Ausbau der erneuerbaren Energien gefunden. 

«Das wären die Brücken, die man suchen muss, wo beide Parteien über ihren Schatten springen und sagen: Unsere Wählerschaft ist eigentlich ähnlicher Meinung», sagte Kersting. Der Professor für vergleichende Politikwissenschaft erhebt seit einigen Jahren Wähler-Daten aus der Online-Entscheidungshilfe «Wahl-Kompass», die er mit seinem Team entwickelt hat.

Grüne sehen schwarz für den Klimaschutz

Die Grünen in NRW sehen nach dem Sieg der Union und angesichts einer möglichen schwarz-roten Koalition schlechte Zeiten für den Klimaschutz anbrechen. «Unverändert drängende Themen wie die Klimakrise und die Modernisierung des Landes werden in der absehbaren Regierungskonstellation voraussichtlich beiseitegeschoben», erklärten die NRW-Landesvorsitzenden Yazgülü Zeybek und Tim Achtermeyer. «Das können wir uns aber nicht leisten.»

Triumph der AfD bereitet traditionellen Parteien Kopfzerbrechen

Sorge bereitet Politikern unterschiedlicher Parteien das gute Abschneiden der AfD. Landesweit landete sie in NRW mit 16,8 Prozent hinter CDU und SPD, konnte allerdings ihren Stimmenanteil aber im Vergleich zu 2021 (damals 7,3 Prozent) mehr als verdoppeln. Ein Direktmandat konnte die AfD in NRW nicht gewinnen.

Allerdings schaffte die in Teilen als rechtsextremistisch eingestufte Partei in zwei Großstädten Westdeutschlands das beste Zweitstimmenergebnis: in Kaiserslautern (25,9 Prozent)und Gelsenkirchen (24,7). AfD-Landesparteichef Martin Vincentz sprach von einem historischen Triumph in der einstigen «Herzkammer der Sozialdemokratie» im Ruhrgebiet. Hier fuhren die Sozialdemokraten herbe Verluste ein. 

Politologe: AfD-Wähler sind moderater als die Partei 

Einen Durchmarsch der AfD bei allen folgenden Wahlen – etwa bei der anstehenden NRW-Kommunalwahl im September – bedeute das aber nicht automatisch, sagte Kersting. Wenn es gelinge, das bei diesem Wahlkampf dominierende Thema Migration abzuräumen, «dann wird es auch gelingen, die AfD im Zaum zu halten». 

Die teils drastischen Zuwächse der Partei auch in Milieus, wo sie es bislang schwer hatte, deuteten aber darauf hin, dass weiterhin mit höheren AfD-Zahlen als in den vergangenen Jahren zu rechnen sei. 

Laut Wählerforschung sei das AfD-Potenzial auf bis zu knapp 30 Prozent zu beziffern. Interessant sei aber, dass ihre Wählerschaft inzwischen deutlich moderater sei als die rechtsextremen Positionen der Partei. «Die Wählerschaft tendiert stärker in die Mitte», sagte Kersting. 

Deswegen könne das Ergebnis der Bundestagswahl Ausdruck einer starken Protestwahl sein. Auf kommunaler Ebene, wo es um örtliche Themen gehe, könnten sich die Wähler ganz anders entscheiden.

FDP NRW will bei Neuaufstellung mitreden

Die FDP NRW musste zwar wie die Liberalen im Bund herbe Verluste hinnehmen und kam nur auf 4,4 Prozent. Der mitgliederstärkste Landesverband unter Parteichef Henning Höne dürfte aber ein gewichtiges Wort bei der Neuaufstellung der Liberalen nach dem Rückzug von Parteichef Christian Lindner mitzureden haben. 

Jubeln konnte die Linke: Mit einem Ergebnis von 8,3 Prozent schickt sie aus NRW 13 Abgeordnete in den neuen Bundestag. Im NRW-Landtag sind die Linken seit Jahren nicht mehr vertreten.

© dpa-infocom, dpa:250224-930-385458/1